Mit Beschluss V B 4/22 vom 23.05.2022 hat der BFH den Beschluss 12 V 1805/21 des FG Münster vom 11.01.2022 weitgehend bestätigt, wonach ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von ab dem 01.01.2019 entstandenen Säumniszuschlägen bestehen.
Das Finanzamt erließ Abrechnungsbescheide über Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer gegenüber der Antragstellerin. Diese legte hiergegen Einsprüche ein, da die Säumniszuschläge im Hinblick auf den darin enthaltenen Zinsanteil verfassungswidrig zu hoch seien. Während das Finanzamt das Einspruchsverfahren im Hinblick auf ein zu dieser Frage beim Bundesfinanzhof anhängiges Revisionsverfahren (Az. VII R 55/20) ruhend stellte, lehnte es den zugleich gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab. Daraufhin stellte die Antragstellerin einen gerichtlichen Aussetzungsantrag.
Während des gerichtlichen Aussetzungsverfahrens gab das Finanzamt einem Antrag auf Teilerlass der Säumniszuschläge im Hinblick auf den darin enthaltenen Druckcharakter wegen Zahlungsschwierigkeiten der Antragstellerin statt.
Das FG Münster gewährte Aussetzung der Vollziehung in Höhe der hälftigen nach dem 31.12.2018 entstandenen Säumniszuschläge. Im Hinblick auf den Zinsanteil bestünden in Anlehnung an den zu Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO ergangenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 08.07.2021 (Az. 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) ernstliche Zweifel. Im Übrigen lehnte das FG den Antrag ab und ließ die Beschwerde zu.
Sowohl die Antragstellerin als auch das Finanzamt legten Beschwerden ein. Die Antragstellerin machte neben verfassungsrechtlichen Zweifeln nunmehr erstmals auch europarechtliche Bedenken im Hinblick auf die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität sowie den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer geltend. Demgegenüber war das Finanzamt der Auffassung, dass der Aussetzungsantrag insgesamt abzulehnen sei, weil das Interesse der Allgemeinheit am Gesetzesvollzug das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin überwiege.
Der BFH hat der Beschwerde der Antragstellerin teilweise stattgegeben und diejenige des Finanzamts abgelehnt. Dabei hat er die von den einzelnen Senaten des BFH unterschiedlich beurteilte Frage, ob die Aussetzung der Vollziehung bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes ein besonderes Aussetzungsinteresse des Antragstellers erfordere, offen gelassen. Da es vorliegend auch um die Vereinbarkeit des § 240 AO mit Unionsrecht gehe, sei ein besonderes Aussetzungsinteresse nicht erforderlich.
Auszusetzen seien vorliegend sämtliche, nicht nur die hälftigen nach dem 31.12.2018 entstandenen Säumniszuschläge, soweit das Finanzamt diese nicht erlassen habe. Die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Verfassungswidrigkeit der Höhe der Nachzahlungszinsen, die allerdings erst ab 2019 zu einer Unanwendbarkeit des § 233a AO führe, führe bei summarischer Prüfung zu ernstlichen Zweifeln an der Höhe der nach dem 31.12.2018 entstandenen Säumniszuschläge. Da die gesetzlich festgelegte Höhe der Säumniszuschläge nur insgesamt verfassungsgemäß oder verfassungswidrig sein könne, erfassten die ernstlichen Zweifel deren gesamte Höhe.
Unionsrechtliche Zweifel bestünden demgegenüber nicht. Zunächst enthalte das Unionsrecht keinerlei Normen zu steuerlichen Nebenleistungen, sodass diese den autonomen Bestimmungen der Mitgliedstaaten unterlägen, die allerdings durch die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität sowie der Verhältnismäßigkeit begrenzt würden. § 240 AO verstoße bei summarischer Prüfung jedoch nicht gegen diese Grundsätze. Der Äquivalenzgrundsatz sei nicht verletzt, da die Säumniszuschläge in gleicher Höhe und ohne Rücksicht darauf anfielen, ob die fällige Steuerschuld auf nationalem Recht oder auf Unionsrecht beruht. Die Verwirkung von Säumniszuschlägen erschwere auch die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht, sodass auch der Effektivitätsgrundsatz nicht verletzt sei. Es liege auch kein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor, da im Einzelfall ein Billigkeitserlass nach § 227 AO in Betracht komme. Schließlich könne auch das Neutralitätsprinzip nicht verletzt werden, da dieses nur für die Umsatzsteuer, nicht aber für steuerliche Nebenleistungen gelte.
(Auszug aus einer Pressemitteilung des FG Münster)